Die Treidlerinnen von Bilbao

Camino del Norte, Camino Primitivo

Der Begriff „Treideln“

Kennt Ihr das Wort treideln? Treideln (von lat. tragulare), auch Schiffziehen, Halferei, schweizerisch Recken, ist das Ziehen von Schiffen auf Wasserwegen durch Menschen oder Zugtiere, seltener auch durch Zugmaschinen oder Treidelloks.

Den Begriff kennt man nicht mehr überall, am ehesten in Regionen, die eine Fluss- oder Meereskultur aufweisen. An manchen Uferwegen großer Flüsse finden sich bis heute Bezeichnungen wie “alter Treidelpfad” oder “Leinpfad”. Sie erinnern an die archaische Arbeit der TreidlerInnen, mit der wir heute allerdings nur noch wenig verbinden können. Dabei hat es bis zum Aufkommen der Dampfschifffahrt an fast allen großen Flüssen Europas Treidler oder Schiffszieher gegeben – je nach Flusslauf, Flussabschnitt, wirtschaftlicher Nutzung und Saison in unterschiedlicher Anzahl. Die TreidlerInnen (in der Mehrheit Männer, in Bilbao ausschließlich Frauen) galten als Randgestalten der Gesellschaft.

In den Habsburgischen Erblanden wurde von 1783 bis 1790 Schiffziehen sogar als Strafe verhängt, nachdem Joseph II. die Todesstrafe so gut wie abgeschafft hatte. Von den 1173 Sträflingen, die zwischen 1784 und 1789 zum Treideln verurteilt worden waren, starben 721 bis zum Jahr 1790, was ein guter Hinweise auf die Härte der Arbeit ist.

Diese Frauen von Bilbao (baskisch “Zirgariak“, spanisch “Sirgueras“) zogen die Schiffe vom Ufer aus mit Hilfe eines dicken Schlepptaus von der Flussmündung in Getxo in den 14 Kilometer entfernten Hafen

Titelbild: Makeip – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=105658641

Ochsen durch Frauen ersetzt

Der Hafen von Bilbao war im 19. Jahrhundert eine der wichtigsten Handelsenklaven im Norden der iberischen Halbinsel, viele Waren wurden über ihn abgewickelt. Vor allem der Abbau von hochwertigem Eisenerz und dessen Verschiffung verlieh der Hauptstadt von Bizkaia Macht und Reichtum. Die Handelsschiffe jedoch stießen auf Höhe des heutigen Stadtteils Bilbao-Olabeaga auf eine unüberwindbare Barriere. Dort sammelte sich der Sand und die großen Überseeschiffe konnten sich nicht weiter Richtung Altstadt-Hafen bewegen.

Das bedeutete, dass die Waren auf Lastkähne umgeladen werden mussten, die wiederum mit Hilfe des Schleppseils vom Ufer aus in den Hafen gezogen wurden. Diese Arbeit wurde anfangs aufgrund der Schwere der Tätigkeit von Lasttieren, vornehmlich von Ochsen ausgeführt. Dabei ergab sich ein finanzielles Problem. Lasttiere wurden zu teuer, sie brauchten Nahrung, mussten untergebracht und gepflegt werden. Und wenn viele Schiffe gleichzeitig ankamen, mussten mehrere Ochsenpaare zur Verfügung stehen. Auch Männer hätten für diese schwere körperliche Arbeit in Frage kommen können, allerdings war ihre Verfügbarkeit durch die vielen Kriege im Laufe des 19. Jahrhunderts stark eingeschränkt (Napoleonische Kriege, Karlistenkriege). So kamen die Reeder auf die Idee, Frauen mit der Schlepp-Arbeit zu beauftragen und dabei höhere Profite zu machen. Denn Frauen wurden (wie bis heute und fast überall) geringere Löhne bezahlt.

Treidlerinnen in Bilbao

Der Treidelpfad

 Die Schiffe mussten an der Mündung auf Höhe der Stadt Portugalete zunächst eine breite Sandbank passieren, um flussaufwärts die verschiedenen Anleger anzulaufen und schließlich den Hafen von Bilbao zu erreichen. Diese Sandbank, “la barra de Portugalete“ genannt, war nicht die einzige Schwierigkeit, die es zu überwinden galt. Auf einer Strecke von 14 Kilometern von Portugalete bis zum Hafen vor der Brücke San Antón musste stets auf die Höhe des Wasserspiegels geachtet werden, besonders bei Ebbe, denn der Fluss wies mehrere flache Stellen auf, auch mehrere kleinere Sandbänke, die sich auf unberechenbare Weise bewegten. Teilweise gab es auch Marschland und Erhebungen am Grund, auf denen sich Sand oder Schlamm ansammelten.

Flussabwärts wurden von Bilbao bis zur Mündung alle Boote entlang des gesamten linken Ufers vertäut, um das rechte Ufer freizulassen, an dem die Kähne und Boote am Schlepptau gezogen wurden. Dafür gab es auf der gesamten Länge des rechten Flussufers einen ununterbrochenen Weg, von Areeta / Las Arenas (Getxo) bis Bilbao. Dieser Weg wurde Treidelpfad genannt. Der Schleppdienst war vom Hafeningenieur abhängig und wurde per Auktion vergeben, wobei Kähne und kleine Boote den gleichen Service genossen wie Segelschiffe.

 

Ende der Treidlerei in Bilbao

 Unter diesen naturgegebenen Bedingungen der Flussmündung des Nervión war die Zuhilfenahme des Schleppseils bis Ende des 19.Jahrhunderts unabdingbar. Die zunehmende Bedeutung des Hafens von Bilbao im Zusammenhang mit dem wachsenden Eisenerzabbau und der Industrialisierung der gesamten Region führte dazu, dass sich immer mehr und immer größere Schiffe einfanden. Der Fluss wurde zum entscheidenden Handelsweg und das starke Verkehrsaufkommen drängte nach einer Lösung.

Im Jahr 1877 wurde der für Straßen, Kanäle und Häfen zuständige Bauingenieur Evaristo de Churruca y Brunet (1841-1917), mit dem Bau einer Kaimauer beauftragt, die die Mündung vom Problem der Sandbank befreien sollte. Nach mehrjähriger Bautätigkeit wurden im Jahr 1887 gleich zwei Kaimauern eingeweiht.

Mit diesem Bau wurde das Problem der Schiffbarkeit des Hafens von Bilbao weitgehend gelöst, nachdem eine etwa achtzig Meter breite Passage mit einer Mindesttiefe von 4,58 Metern bei Ebbe geschaffen wurde. Damit gehörte das Schleppseil der Vergangenheit an

Canal de Midi Treidelpfade Von Peter Gugerell, Vienna, Austria - Own Photopraph, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2868903

Verächtlich betrachtete Tagelöhnerinnen

Jene Frauen, die diese knüppelharte Arbeit in der Not auf sich nahmen, waren dazu gezwungen, um ihr täglich Brot zu verdienen. Deshalb wurden sie verächtlich auch als “ganapanes” (Brot-Verdienerinnen) bezeichnet. Dieser abwertende Spitzname kam zustande, weil sie nach einem arbeitsreichen Tag gerade mal die allernötigsten Lebensmittel erwerben konnten. Not und Spott fielen wieder einmal zusammen. Die Treidlerinnen waren von der Gunst der Reeder abhängig. Sie mussten sich an Ort und Stelle präsentieren, wurden jedoch nicht immer ausgewählt und beauftragt, weshalb sie bisweilen unverrichteter Dinge heimkehrten mussten und keine Tageseinnahme hatten. Dieses Prinzip spiegelt sich im Begriff “Tagelöhner“ wider. Sie verdingten sich für einen Tag, ohne zu wissen, was am Folgetag geschehen würde.

Die Frauen waren mit einem dicken Schleppseil, das ihnen um Brust und Schulter gelegt war, miteinander verbunden. So bildeten sie eine Kette und zogen in gebeugter Haltung unter größtmöglicher körperlicher Anstrengung die Schiffe vom Ufer aus. Wenn das Seil versagte, kam es vor, dass die Frauen aufgrund ihrer nach vorn gebeugten Haltung mit dem Gesicht voran auf den Boden fielen. Teilweise hatten sie auch ein Messer oder Beil dabei, um bei Gefahr das Seil zu kappen.

Erinnerung an die Treidlerinnen in Bilbao

Dieses Stigma schloss sie aus der offiziellen Geschichtsschreibung Bizkaias aus. Tatsache ist, dass ihre Geschichte praktisch unbekannt war, bis ihnen vor wenigen Jahren Imanol Barbería eine Forschungsarbeit mit anschließender Buchveröffentlichung widmete.

Die Treidlerinnen von Bilbao sind seit dem 1. Mai 2021 mit einer Skulptur an der Uferpromenade in der Nähe des Guggenheim Museums verewigt (s. Bild oben). Die Künstlerin Dora Salazar war mit der Aufgabe betraut worden, eine Skulptur in Erinnerung an die Treidlerinnen zu errichten. Diese besteht aus vier Frauen von 2,5 Metern Höhe, die mit einem dicken Seil miteinander verbunden sind. Sie würdigt den schweren und zermürbenden Arbeitseinsatz dieser Frauen.

Bereits im Dezember 2016 war ein Fußweg im Bilbao-Stadtteil Olabeaga nach ihnen benannt worden: “Muelle Sirgueras“ (Mole der Treidlerinnen).

Die Wolgatreidler, Gemälde von Ilja Repin

Das Schicksal der TreidlerInnen in anderen Ländern

Es hat bis zum Aufkommen der Dampfschifffahrt an fast allen großen Flüssen Europas Treidler gegeben – je nach Flusslauf, Flussabschnitt, wirtschaftlicher Nutzung und Saison in unterschiedlicher Anzahl.

So ist z.B. das Treideln am Rhein seit dem 8. Jahrhundert belegt und auf der Weser wurden seit dem Mittelalter Weserkähne gegen die Strömung getreidelt. Vor allem in Frankreich, wo ab dem 17. Jahrhundert zahlreiche schiffbare Kanäle entstanden, wurden vielfach Schiffe getreidelt. Kanäle wie der 1694 fertiggestellte Canal de Midi, wo mit Menschen und Pferden getreidelt wurde, weisen nach wie vor beidseitig Leinpfade auf.

Tatsächlich waren die Arbeitsbedingungen für Tier und Mensch überaus hart und mühevoll und alles andere als beschaulich. Oft aber ist das Wissen und die Erinnerung an die TreidlerInnen verloren gegangen. Denn die TreidlerInnen galten als Randgestalten, die selbst für die Künstler uninteressant waren. So haben sie kaum die Vorstellungen vom Arbeitslebens an den Flüssen geprägt.

Auch von den Treidlern an der Wolga wissen wir bis heute wenig. Die Schiffszieher an der Wolga, auf Russisch Burlaki, waren im Handel zwischen Moskau und dem Kaspischen Meer eine nicht wegzudenkende Größe. Fernab der großen Städte führten sie ein beschwerliches, manchmal auch freies Leben. Treideln an der Wolga war eine saisonale Tätigkeit, die vor allem von jungen Männern aus dem Bauernstand ausgeübt wurde. Sie versprach zusätzliche Einkünfte in einer Zeit, in der nicht nur der Handel zunahm, sondern sich auch die Leibeigenschaft verschärfte. Der Lohn ging größtenteils an den Gutsbesitzer, ein kleinerer Teil blieb bei der Familie. Sie waren viele und ihre Lieder, die in Russland sehr beliebt waren, erinnern noch an ihre mühevolle Arbeit.

Dass sie berühmt geworden sind, verdanken wir einem Gemälde. Der ukrainisch-russische Maler Ilja Repin (1844-1930) malte 1873 das Bild “Die Wolgatreidler“, das ihn selbst fast über Nacht berühmt machte. 

Die Wolgatreidler, Gemälde von Ilja Repin
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