"Leeres Land" - Die Geisterdörfer Spaniens

Camino Primitivo, Camino del Norte, Via Tolosana, Via de la Plata

Die Landflucht in Spanien

Die Disparitäten in der Bevölkerungsdichte zwischen den einzelnen Autonomen Gemeinschaften bilden ein traditionelles Schlüsselproblem Spaniens. Hohe Konzentration der Bevölkerung in bestimmten Ballungsgebieten und dünne Besiedlung und weite Entfernungen zu Agglomerationsräumen, bei ungünstigen naturräumlichen Standortfaktoren und einer monostrukturellen Landwirtschaft bestimmen diesen Gegensatz.

Die Bevölkerung Spaniens ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen. Davon kann man sich bei einem Besuch der Großstädte und Ballungsräume vorwiegend an den Küsten leicht überzeugen. Die ländlichen Gegenden waren nie dicht besiedelt. Doch zwischen 1950 und 1970 vollzog sich ein regelrechter Exodus. Das ist nicht zuletzt der rücksichtlosen Industrialisierung unter Franco zu verdanken. Während sich die Einwohnerzahl vieler Städte verdoppelte und verdreifachte, entleerten sich die ländlichen Regionen fast vollständig. Rund 75% der Menschen leben heute im Großraum Madrid und in den urbanen Zentren entlang der Küsten. So hat Spanien eine Bevölkerungsdichte, die in Europa nur von Lappland und Teilen Finnlands unterschritten wird. Auch wenn die regionalen Disparitäten nicht allein ein Thema von Spanien sind, sondern in vielen europäischen Länder Realität sind, so ist der Unterschied in Spanien jedoch besonders eklatant.

Schon Cees Nooteboom erzählt in den 1970er Jahren in seinem Buch “Umwege nach Santiago” von dieser Landflucht und den vielen ländlichen Dörfer, in denen er wenn überhaupt nur noch wenige alte Menschen trifft. Gleichzeitig zeigt sich aber auch die Ambivalenz, die in solchen Entwicklungen steckt. Denn er ist auch fasziniert von dieser Weite und Leere des Landes, die für ihn seinen besonderen Charakter ausmacht. Er spricht davon, dass die Einöde des Landes seine eigene Majestät besitztn

Bevölkerungsdichte 2018 E/qkm hell gelb unter 10 tief violett 10.000 Von dieghernan - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=83349211

Vor allem seit Beginn der 1960er Jahre begann ein Massenexodus von arbeitssuchenden jungen Menschen. Diese gingen entweder als Emigranten in andere europäische Länder oder aber sie zogen in Form der internen Migration in die Industriezentren (v.a. Bilbao, Barcelona, Madrid, Valencia). Bei der Abwanderung aus dem ländlichen Raum handelte es sich de facto um eine Landflucht. Sie begann häufig als temporäre Wanderung einzelner Familienmitglieder, die in den städtischen Zentren des Landes bessere Verdienstmöglichkeiten suchten. Aus der temporären Abwanderung wurde in aller Regel recht bald eine definitive Familienwanderung. Die Binnenwanderungsbewegung begann in der Regel als Etappenwanderung, d.h. die abwanderungswillige Bevölkerung wanderte zunächst in die eigene Provinzhauptstadt und von dort aus dann in entfernter gelegene industrielle Ballungszentren. Häufig zogen dann diesen ersten Migranten weitere Abwanderungswillige aus dem gleichen Herkunftsgebiet nach sich, so dass sich in den Großstädten ganze Stadtviertel gleicher Herkunftsgebiete bildeten, wie wir es ja in Deutschland aus vielen Großstädten mit der Konzentration ausländischer Zuwanderer kennen.

Die Selektivität der Migration

Die Selektivität der Migrationsprozesse d.h. die Abwanderung vor allem jüngerer Menschen mit oft besserem Ausbildungsniveau hat für die Abwanderungsräume neben dem Verlust an Menschen weitere gravierenden Strukturprobleme zur Folge wie Überalterung, Verfall der Landwirtschaft in Kombination mit wachsender Bodenerosion und Desertifikation und einem allgemeinen ökonomischen Niedergang der Gemeinden.

Am stärksten trifft der Bevölkerungsschwund die weitläufigen ländlichen Regionen in Kastilien-León, Kastilien-La Mancha, Extremadura oder Aragonien, aber auch Teile von Andalusien, Kantabrien, Galicien und Asturien. Sie machen 62 Prozent der Fläche Spaniens aus, dort wohnt mit 11,5 Millionen Personen aber nur ein Viertel der Gesamtbevölkerung. So sind hier zum Teil ganze Dörfer nur noch partiell bewohnt, kleinere Weiler sind vollständig aufgegeben worden (sogenannte Ortswüsten).

Die Entwicklung wirft eine Reihe von gravierenden Fragen aus:

Wie sollen unter solchen Rahmenbedingungen die schulische Bildung und berufliche Ausbildung garantiert werden?

Wie könnte eine wirtschaftlich nachhaltige Entwicklung in den betroffenen Gebieten initiiert werden?

Wer trägt die Kosten für eine zeitgemäße infrastrukturelle Ausstattung mit Straßen, Elektrizitäts- und Kommunikationsnetzen, Ver- und Entsorgungsdiensten usw. in nur punktuell besiedelten Räumen?

Wer garantiert die Kontrolle von Umweltschutzbestimmungen?

Wer sorgt für die Einhaltung eines mitunter sehr fragilen ökologischen Gleichgewichts in kaum besiedelten, aber von der Freizeitgesellschaft und dem Tourismus genutzten (Gebirgs-)Räumen.

Es ist ein Teufelskreis. Viele Menschen verließen und verlassen ihre Heimatdörfer. Andere zeihen gar nicht erst dorthin – wegen der mangelnden Grundversorgung an öffentlichem Nahverkehr, Internetverbindungen, Schulen, Gesundheitszentren etc. Doch je weniger Menschen in den dünn besiedelten Gebieten leben, desto geringer ist der Anreiz für die Politik und die Privatwirtschaft dort zu investieren.

https://www.spotblue.com/de/news/spains-abandoned-villages/

Das Schlagwort „Leeres Land“

Der Begriff „leeres Spanien“ ist u.a. durch das Buch des Journalisten Sergio del Molino zu einem politischen Schlagwort geworden und hat zu zahlreichen Diskussionen und Initiativen in Spanien geführt. Del Molinos Buch hat in Spanien eine kaum vorstellbare Wirkung entfaltet, Parlamentsdebatten, Gegenbücher, sogar die Gründung einer Partei angeregt. 

Das Thema Landflucht lässt sich mittlerweile keine spanische Partei mehr entgehen, die drohende Entvölkerung ganzer Regionen zählt heute zu den bedeutenden Herausforderungen der Regierung. Es wurden inzwischen zahlreiche Programme aufgelegt, um das Problem in den Griff zu bekommen. Aber wie erfolgreich diese wirklich sind, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen.

Die Verantwortung liegt aber nicht nur bei der spanischen Regierung, auch die Autonomen Gemeinschaften und lokalen Gebietskörperschaften müssen Vorschläge und Maßnahmen ergreifen, um dem Trend der Entvölkerung, der lange Zeit als unumkehrbar galt, entgegenzutreten.

España Vaciada ist eine politische Plattform und soziale Bewegung, die sich aus einer großen Anzahl von Bürgergruppen und Vereinigungen zusammensetzt. Diese existieren zum Teil schon seit zwei Jahrzehnten, sie treten in vielen Provinzen unter unterschiedlichen Namen an. Die Bewegung versucht, die Interessen des leerer werdenden ländlichen Spaniens zu vertreten.

In ihrem Programm betont die Plattform, das fehlerhafte, unfaire und asymmetrische territoriale Entwicklungsmodell korrigieren zu wollen. Ihr Ziel ist es, die Abwanderung aus ländlichen Regionen, den Rückbau von Infrastruktur und die daraus folgende Gefahr von Verödung auf die politische Agenda zu setzen. Der Vormarsch des „leeren Spaniens“ in die spanische Politik gestaltet sich bislang regional sehr unterschiedlich und hängt stark von lokalen Gegebenheiten ab. Die Hoffnung bei den Nationalwahlen ein größeres politisches Gewicht im Parlament bilden zu können, hat sich leider nicht erfüllt. Bei den Nationalwahlen im Juli 2023 hat sie keinen Sitz erringen können und nur knapp über 3000 Stimmen erhalten.

Die verlassenen Dörfer u.a. in Galicien und Asturien

Die wirtschaftliche Armut in bestimmten ländlichen Regionen, die Überalterung der Bevölkerung und die massive Landflucht der jungen Menschen hatte zur Folge, dass vielen Dörfern das Aussterben droht. Heute sind sogar schon ganze Dörfer verlassen und dem Verfall überlassen worden. Cees Nooteboom hat in seinem Buch “Umwege nach Santiago” sehr treffend beschrieben, dass die Dörfer früher durch ihre exponierte Lage in den Bergen geschützt waren, aber genau dadurch sind sie heute von der Entwicklung abgeschnitten. Und er beschreibt sehr eindringlich, wie es ist ein solches leeres Dorf aufzusuchen (S. 380). Der Fluch oder Segen Spaniens besteht darin, dass es endlose Küsten besitzt, die von Industrie und Tourismus gleichermaßen hoch geschätzt werden. 

Was für uns gerade die Schönheit und Attraktivität der Jakobswege ausmacht – die ländliche Idylle, die weiträumige Landschaft, die Leere, die Ruhe, die Stille und Einsamkeit -, ist auf der anderen Seite auch eine Konsequenz der Landflucht und des wirtschaftlichen Niedergangs dieser Regionen. 

Vor allem auf dem camino primitivo kann man die Abwanderung aus den abgelegenen Dörfern Asturiens und Galiciens unmittelbar beobachten, geht man doch an verlassenen verfallenen Häuser und Dörfern vorbei. Allein im Osten Galiciens finden sich angeblich ca. 400 aufgegebene Dörfer. Nun versucht man, diesen Geisterdörfer wieder Leben einzuhauchen, indem man überlegt, sie im Ganzen zu verkaufen. Heute sind es vor allem Ausländer, die Interesse zeigen, ganze Weiler zu kaufen. Vielleicht tragen ja die Digitalisierung und der überhitzte Wohnungsmarkt in den Verdichtungsräumen dazu bei, dass ein oder andere Dorf vor dem Verfall gerettet wird. Dazu ist es allerdings notwendig, gerade die Infrastruktur zu erhalten bzw. auszubauen, um den Anforderungen eines heutigen digitalen Lebens gerecht zu werden.

Neben diesen Beispielen gibt es einige – von den regionalen Regierungen allerdings nur teilweise tolerierte – Versuche der Wiederbesiedlung verlassener Dörfer durch junge Besetzer*innen. Neben der rechtlichen Grauzone, in der diese neuen Bewohner agieren, wird oft auf die Vorteile solcher Aktivitäten hingewiesen. Durch ökologische Landwirtschaft wird Biodiversität geschaffen. Die Agroforstwirtschaft reduziert das Brandrisiko und den ökologischen Fußabdruck. Wirtschaftlich wird das lokale Gefüge durch die Präsenz neuer Bewohner gestärkt; sie produzieren, konsumieren und schaffen oft Aktivitäten, die es bisher noch nicht gab. Kulturell geht es um die Schaffung von experimentellen Freiräumen, in denen sich Menschen von verschiedenen Horizonten treffen und in unterschiedlichsten Bereichen einbringen können.

All diese Beispiele und Versuche werden aber nicht ausreichen, um dem Problem der Landflucht zumindest teilweise entgegenzuwirken. Hierzu sind sicher intensivere Bemühungen und Aktivitäten der staatlichen und regionalen Behörden notwendig. Aber die gesamte Entwicklung lässt sich wohl nicht zurückdrehen, dazu fehlen sowohl die ökonomische Basis als auch die ökologische Voraussetzungen, gerade wenn auch man an den Klimawandel denkt.

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