Phasen der Auswanderung nach Südamerika
Die neuere Geschichte Spaniens ab dem 19. Jahrhundert ist eine Geschichte des Auswanderns. Selbst in den Glanzzeiten des spanischen Weltreiches verließen Hunderttausende aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat, um in anderen Ländern ihr Glück zu suchen. Lateinamerika war seit den Tagen der Entdeckung des neuen Kontinents das Hauptziel der Auswanderer. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Wege der Migration.
Die spanische Auswanderung nach Südamerika begann im frühen 16. Jh. Während des 16.-18. Jahrhunderts hatte die Auswanderung spanischer Bürger in die amerikanischen Kolonien vor allem das Ziel, die dortigen Machtverhältnisse zu stützen und in den Kolonien zu arbeiten: Soldaten (sowie deren Familien) und Geistliche bildeten die beiden großen Gruppen der ersten Einwanderer. Durch die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung der Kolonien (vor allem von Argentinien, Brasilien, Kuba, Puerto Rico, Mexiko, Uruguay und Venezuela) nahm der Anteil der Emigranten aus wirtschaftlichen Gründen zu, während die Zahl der Soldaten abnahm. Unter anderem durch die Abschaffung der Sklaverei wuchs der Bedarf an Arbeitskräften in Südamerika schnell, nicht zuletzt auch, weil im Zuge der Kolonialisierung Südamerikas große Teile der indigenen Bevölkerung ausgelöscht wurden.
Als die lateinamerikanischen Kolonien sich unabhängig erklärten und sich von Spanien zu lösen begannen, kam es zu einer Rückreisewelle. Aber viele Spanier blieben und auch neue wurden angeworben, da die Länder einen hohen Bedarf an Arbeitskräften hatten.
Mit der Weltwirtschaftskrise endete die Epoche der lateinamerikanischen Immigrationspolitik schlagartig: Waren bis 1930 fast 5 Mio. Spanier nach Lateinamerika ausgewandert, so schotteten sich die meisten Länder nach der Krise fast vollständig ab: Die Zahlen lagen zwischen 1880 und 1930 bei durchschnittlich fast 89.000 spanischen Einwanderern jährlich, doch sank die Zahl zwischen 1931 und 1936 auf nur noch 15.500. Außerdem wurde die Auswanderung durch das franquistische Regime unterbunden.
Aber der spanische Bürgerkrieg führte trotzdem zur Auswanderung von einer Million Spanier diesmal aus politischen Gründen.
Mit der Änderung des Auswanderungsgesetzes 1971, welches sich mehr an einer innereuropäischen Migration orientierte und diese förderte, der Demokratisierung Spaniens nach Francos Tod 1975, dem EU-Beitritt 1986 und einer zunehmend als unsicher empfundenen Situation in Amerika, nahm die Zahl der Amerika-Emigranten immer mehr ab. Wenn dann wanderten Spanier zum Arbeiten nach Frankreich, Deutschland oder in andere europäische Staaten. (s. auch unter der Rubrik Geschichten das Kapitel „Altes Mütterchen“) .
Das Beispiel Galicien
Eine frühe Welle galicischer Migration begann bereits im 18. Jh., als Tausende Galicier nach Andalusien, Kastilien und Portugal wanderten, um als Tagelöhner bei Großgrundbesitzern oder in den Städten als Dienstboten oder Wasserträger zu arbeiten. Die Hauptphase galicischer Auswanderung nach Übersee begann etwa 1860 und dauerte bis 1936.
Zwischen 1885 und 1930 wanderten mehr als 900.000 Galicier nach Lateinamerika, in vielen Einzeljahren dieser Periode stellten sie das größte Kontingent spanischer Auswanderer. Hauptgrund war die im dörflich geprägten und kaum entwickelten Galicien grassierende Armut. Mehr als die Hälfte der galicischen Auswanderer zog nach Argentinien ; fast ein Drittel wanderte nach Kuba aus; drittwichtigstes Zielland war Brasilien.
Beweggründe und harte Realität
Die galicische und asturische Landbevölkerung war bereits an eine kurzfristige Emigration nach Kastilien gewöhnt, wo sich besonders die Männer als Saisonarbeiter verdingten, um die Familie am Leben zu erhalten. Aufgrund von Armut, Hungersnöte, politische und soziale Erschütterungen, unzureichende Lebensperspektiven ließen viele – vor allem (junge) Männer – ihr Land hinter sich und träumten von einer besseren Zukunft in den Kolonien und davon reich zu werden. Es gibt einen Spruch, der lautet: „Wenn der Galicier hungert, wird er nicht deprimiert, sondern wandert aus“.
Sie hatten große Träumen, die meiste Zeit über war das aber nicht das El Dorado, das ihnen versprochen worden war, sondern sie mussten unter harten Bedingungen arbeiten, die z.T. der Sklaverei sehr nahekamen. Viele der Emigranten scheiterten. Gebrochene Illusionen, Lügen und hohe Alkoholgenuss waren teilweise die Realität. Viele kamen arm und nicht wie erträumt reich nach Hause, viele versuchten es trotzdem noch einmal, viele kehrten nie wieder in die Heimat zurück. Ihre Frauen befanden sich in einer komplizierten rechtlichen Situation, da sie zwar keine Witwen waren, ihr Leben aber auch mit niemand anderem teilen konnten. So spricht Rosalia de Catro (1837 – 1885) in einem ihrer Gedichte von den viúdas dos vivos e as viúdas dos mortos (den Witwen der Lebenden und den Witwen der Toten). Dieser Begriff wurde später literarisch vielfach aufgegriffen.
Trotzdem waren die Emigranten schon ab dem 18. Jahrhundert eine wichtige Geldquelle für die Daheimgebliebenen. Ohne die „remesas“ (Überweisungen) wäre das Leben gerade in den ärmeren Regionen Spaniens, z.B. Galicien oder Asturien, noch härter gewesen, und viele Familien waren von diesen Geldsendungen abhängig. Dass die Überweisungen der Emigranten für die Daheimgebliebenen z.T. lebenswichtig ist , daran hat sich ja leider in den Jahrhunderten bis heute nichts geändert.
Das Schicksal der Witwen der Lebenden und Toten
Das Oxymoron „Witwen der Lebenden“, das im ländlichen Galizien immer noch im Volksmund verwendet wird, scheint im 19. Jahrhundert entstanden zu sein.
Der männliche Überhang bei der frühen Auswanderung bringt das Gleichgewicht der Geschlechter in den Dörfern durcheinander – die Männer fehlen. Die wirtschaftliche Situation, die soziale Entwicklung und die populäre Poesie scheinen in Galizien zusammengekommen zu sein, um eine dörfliche Kultur zu entwickeln, die in Liedern und Gedichten auf die Situation der Frauen hinzuweist. Mussten diese Frauen doch in der Einelternfamilie zuhause alles alleine meistern, sei es die Arbeit auf den Feldern, die Armut zuhause, die Erziehung der Kinder. Irgendwo stand einmal die Aussage vor der Geburt eines Kindes „Möge es ein Mädchen werden, denn die werden hier gebraucht!“
Einerseits spielen die Männer eine entscheidende Bedeutung. Selbst wenn sie nicht anwesend waren, bestimmten sie, was mit den Frauen passierte. Wenn man will, sind aber beide sowohl die Männer als auch die Frauen Opfer der Umstände. Andererseits entwickelten sich aus dieser Überlebensstrategie starke Frauen.
Sie meistern ihre schwierige rechtliche Situation (Witwen der Lebenden), ihre Sehnsucht nach und die Angst um den Mann, die Einsamkeit, die Verzweiflung sowie die ganz alltäglichen Probleme eines Dorflebens in jener Zeit.
Es gibt ein eindrucksvolles Bild vom galicischen Fotografen Virgilio Vieitez, das er in den 60er Jahren des 20. Jh. aufgenommen hat. Eine alte Frau in dem typischen schwarzen Kleid sitzt auf einem Stuhl, neben ihr, auf einem zweiten Stuhl, steht ein Radio. Ihr nach Amerika ausgewanderter Sohn hat ihr Geld geschickt, damit sie sich ein Radio kaufen kann, zum Zeitvertreib. Das Bild hat sie ihm geschickt. Er soll sehen, dass sie nicht mehr allein ist…….
Das Bild berührt und sag mehr als viele Worte über Zurückgelassenen.
Der Traum vieler, die Realität einiger – die Casonas (Villen) der „Indianos“
Im 19. Jh. emigrierten viele Nordspanier nach Lateinamerika – und einige kamen auch wirklich reich zurück. Als erstes bauten sie sich Prachtvillen, die bis heute gut erhalten sind.
„Indianos“ heißen in Spanien die Emigranten, die reich aus Lateinamerika zurückgekehrt sind. Mit prächtigen Villen bewiesen die Heimkehrer ihren gesellschaftlichen Aufstieg und dass sie in Amerika zu viel Geld gelangt waren. Damit weckten sie natürlich weitere Hoffnung bei potentiellen Emigranten. Die „indianos“ haben eine herrliche Ansammlung von kleinen Palästen und Herrenhäusern im Stil des Eklektizismus, Jugendstil und Historismus hinterlassen. Die „casonas“ der Rückkehrer hatten großartige Fassaden, Aussichtstürme, hohe Decken, Galerien, Balkone und beeindruckende Treppenaufgänge. Gärten voller Palmen, Araukarien, Magnolien, Rhododendren und Kamelien sollen ihren Reichtum repräsentieren.
Um einen ersten Eindruck von der Pracht der „indianischen Häuser“ zu gewinnen, eignet sich besonders eine Reise durch die Gegend von Llanes im Osten des Fürstentums von Asturien. Dort sind herausragende Beispiele dieser besonderen Architekturform zu finden, wie etwa die Casona de Verines und die Paläste von Santa Engracia und Mendoza Cortina in La Borbolla und Pendueles. Auch in Ribadeo, einem Städtchen an der Grenze zwischen Asturien und Galicien kann man zahlreiche Villen im „Indiano-Stil“ bewundern. Man findet diese Villen natürlich auch in Galicien, Kantabrien und anderen Regionen Spaniens. Eine schöne Zusammenstellung von Bildern der prächtigen Villen in Nordspanien und Portugal findet man in der Zeitschrift „portugal-kultur“ Heft 8.
Nach ihrer Rückkehr aus Amerika spielten die reichen Rückkehrer im Spanien der damaligen Zeit eine wichtige soziale Rolle, bauten Schulen, Rathäuser, öffentliche Badeanstalten, Straßen, Krankenhäuser und Heime. So z.B. auch der reiche Indiano Antonio López y López, der sich in seiner Heimatstadt Comillas zurückgekehrt im späten 19.Jh. eine große Villa errichtete. Er war in Übersee durch die Tabakproduktion und den Tabakhandel reich geworden, hatte aber auch mit Banken und eine transatlantischen Schifffahrtsgesellschaft Erfolg und Geld gemacht. Zurück in seiner Heimat tat er alles um den beginnenden Badetourismus der Madrilenen zu fördern. Noch heute stellt diese Gruppe den Großteil der Sommerurlauber an der kantabrischen Küste und in Comillas.
Doch Ironie der Geschichte: Da diese reich gewordenen „Indianer“ nur unter sich heirateten (das Fachwort dafür heißt Endogamie), die Zahl potenzieller Heiratskandidaten mit der Zeit aber abnahm, gerieten etliche „Indianer“ nicht nur in familiäre, sondern auch in wirtschaftliche Not. In der Folge verkauften sie ihre architektonischen Herrlichkeiten oder öffneten sie der Öffentlichkeit.
So können heutige Besucher in aller Ruhe schauen und staunen. Sie laufen über lackierte Holzböden, befinden sich in detailgetreu gestalteten Museumsecken plötzlich auf einem Schiffsdeck oder auf einer lateinamerikanischen Hazienda-Terrasse wieder, entdecken in Vitrinen Krinolinen, Sonnenschirme und Sepiafotografien der asturischen Auswanderer in den Salons von Havanna oder Valparaíso, streichen über kühle marmorne Balkonbalustraden.
Leider stehen einige der Villen aber auch leer und verfallen zum Teil. Andere werden zum Verkauf angeboten. In manchen findet man heute aber auch kleine hübsche ländliche Hotels.
Auf unserer Wanderung auf dem Camino del Norte sollte man in Colombres angehalten, gleich hinter der kantabrisch-asturischen Grenze, um das beeindruckende Migrations-Museum zu sehen. Sowohl das Museumsgebäude selbst, als auch die historische Ausstellung sind sehenwert. Die dargestellte Geschichte schildert praktisch und einleuchtend die Realität der früheren Bewohnerinnen der Regionen an der Nordküste der Iberischen Halbinsel. Diese Geschichte gilt nicht nur für Asturien, das Museum könnte genau so gut auch im Baskenland oder in Galicien stehen, denn in den vergangenen Jahrhunderten waren Leute aus allen Regionen aufgrund ihrer Existenzbedingungen dazu gezwungen, in Übersee, vor allem in Südamerika ihr Glück zu suchen. Manchmal war es auch pure Abenteuerlust.