Der Geisterbahnhof von Canfranc

Bahnhof Canfranc

Anfang des letzten Jahrhunderts wollten die Regierungen von Frankreich und Spanien eine Zugfernverbindung zwischen Madrid und Paris errichten. Zunächst wurde dazu zwischen 1901 und 1927 die Bahnstrecke zwischen Pau und Saragossa gebaut. Für das Vorhaben wurden Flüsse umgeleitet, Bahndämme aufgeschüttet und Dutzende von Tunneln gegraben. Zur selben Zeit entstand der als Estation Internacional de Confranc bezeichnete Grenzbahnhof, der 1928 fertiggestellt wurde und vom spanischen König Alfons XIII und dem damaligen französischen Staatspräsidenten Gaston Donnergue eröffnet wurde. Der für das Äußere gewählte eklektische Beaux-Arts-Stil wurde von der Kultur der französischen Palastarchitektur inspiriert. Der Bahnhof besaß eine doppelte Nationalität. Er befand sich zwar 8 Kilometer von der Grenze entfernt auf spanischem Boden, da aber auf französischer Seite keine ausreichend große Fläche für einen Bahnhof vorhanden war, wurde er auch von den Franzosen mitgenutzt.

Der Bahnhof hat auf 1195 m Höhe liegend enorme Dimensionen. Mit fast 250 m Länge des Hauptgebäudes, 365 Fenstern und 150 Türen war er zur damaligen Zeit der zweitgrößte Bahnhof Europas !– nach Leipzig. Auf der einen Seite des Gebäudes lagen die Gleise für die Züge aus Frankreich, die die normale europäische Spurbreite von 1435 mm hatten. Auf der anderen Seite fuhren die spanischen Züge auf den Gleisen mit einer Spurbreite von damals 1668 mm. Also mussten alle Passagiere und Güter von der einen Seite des Gebäudes zur anderen Seite wechseln. So gingen die Passagiere durch das Bahnhofsgebäude und erledigten gleichzeitig die Zollformalitäten.

Tausende Reisende sollten hier täglich abgefertigt werden – so war der Plan.

Allerdings zeichnete sich sehr schnell ab, dass dies eine völlig unrealistische Planung war. Dafür waren wohl mehrere Gründe verantwortlich. Zum einen wirkte sich 1929 die Weltwirtschaftskrise auf den Handel aus, so dass weniger Waren transportiert wurden. Zudem waren die Züge durch die vielen Steil – und Kurvenstrecken (auf französischer Seite mit Steigungen bis zu 43%) zu langsam. Des weiteren wurde die Strecke mehrmals geschlossen – während des spanischen Bürgerkrieges zwischen 1936 und 1939 und dann in der Zeit von 1944 bis 1948. Franco ließ die Bahnlinie damals für mehrere Jahre schließen. Er fürchtete, dass spanische Partisanen aus Frankreich nachrücken könnten. Nach dem 2. Weltkrieg fuhren nur noch wenige Züge pro Tag, so das die Strecke eigentlich unrentabel war. 1970 kam für die Strecke das wohl endgültige Aus. Auf der französischen Seite versagten bei einem Güterzug die Bremsen, und die Waggons stürzten mitsamt der Brücke von L´Estanguet in einen kleinen Fluss. Für die Franzosen war dies ein willkommener Anlass, die defizitäre Linie stillzulegen.

Geblieben ist der monströse Geisterbahnhof, einer jener Lost Places in Europa mit seinen immensen Ausmaßen und seiner vielschichtigen Geschichte.

Es ist aber interessant, sich die Geschichte der Strecke und des Bahnhofs genauer anzuschauen, denn sie birgt zahlreiche Geheimnisse grausame und berührende und zeigt seine gerade im zweiten Weltkrieg besondere strategische Bedeutung.

Eines dieser Geheimnisse entdeckte der Busfahrer Jonathan Diaz auf, Fahrer des Linienbusses zwischen Canfranc und dem französischen Städtchen Oloron-Sainte-Marie. Im November des Jahres 2001 schlenderte der Franzose über die von Gras und Büschen überwucherten Gleise der Station. Bis zur Abfahrt seines Busses blieb noch etwas Zeit. Er kam an einem Haufen alter Unterlagen aus den verlassenen Zollbüros vorbei und steckte sich eine Hand voll dieser Papiere in die Jackentasche, machte sich zunächst über den Fund keine weiteren Gedanken. Daheim sah er sich die Zollpapiere aus der Kriegszeit dann genauer an.

Da fiel sein Blick auf die Eintragung: “Drei Tonnen Goldbarren.” Nun wurde ihm plötzlich klar, dass seine Entdeckung von größter Brisanz sein könnte. Denn der Busfahrer hatte die Leute in Canfranc schon häufiger davon munkeln hören, dass Raubgold des deutschen Hitler-Regimes über die Grenzstation nach Spanien und Portugal verschoben worden sei. Noch in derselben Nacht setzte er sich in sein Auto, fuhr über die Grenze nach Canfranc und sammelte in Plastiktüten weitere Papiere auf. Vorsichtig untersuchte Diaz die Unterlagen. Das Pergamentpapier war vergilbt und teilweise vermodert oder von Ratten und Insekten angefressen. Der Zoll hatte darauf alle jene Güter registriert, die die Grenze passierten.

Der 40-Jährige hielt ein Stück brisanter Geschichte in den Händen. Die von ihm eingesammelten Dokumente belegen, dass zwischen Juni 1942 und Dezember 1943 in Canfranc 86,6 Tonnen Gold die Grenze passierten. Davon gelangten 74,5 Tonnen nach Portugal und 12,1 nach Spanien. Weitere Dokumente, die in Archiven gefunden worden, gehen von mehr als 100 Tonnen Gold aus.

Die Papiere sind zwar nur Durchschriften, aber ihre Echtheit wird von niemandem angezweifelt. Wo die Originale sind, weiß niemand. Die Entdeckung bedeutete eine Sensation. Bisher hatte nämlich kein Wissenschaftler von den Goldtransporten über Canfranc gewusst. In den bisherigen Expertengutachten über die Gold-Lieferungen taucht der Name des Pyrenäendorfes nirgends auf. Die Papiere belegen, dass Spanien und Portugal mehr Raubgold vom Nazi-Regime erhielten, als bisher bekannt war. Wie kam es dazu?

Die Bahnstation wurde im zweiten Weltkrieg zum Umschlagsplatz für Handelsgüter neben Lebensmitteln und Textilien vor allem von Wolfram-Erzen aus Portugal und Spanien nach Deutschland und als Gegenleistung von Gold aus Deutschland via Schweiz nach Spanien/Portugal. Die Rohstoffe von der iberischen Halbinsel wurden von den Deutschen dabei mit sogenanntem Raubgold bezahlt. Von den insgesamt 184 Tonnen Gold, die während des zweiten Weltkrieges von 1942-44 über den Schweizer Grenzort Bellegarde und durch Frankreich nach Spanien und Portugal gingen, sind rund 86,7 Tonnen in Canfranc verschoben worden.

Der Grund für die Goldtransporte lag darin, dass die im zweiten Weltkrieg „neutralen“ Länder Spanien und Portugal sich weigerten, Reichsmark für ihre Produkte anzunehmen, da diese für ihren Handel mit den Alliierten wertlos war. Also wurden nur Schweizer Franken und Gold als Zahlungsmittel akzeptiert. Für die Deutschen war der Handel mit Spanien und Portugal aber kriegswichtig, da beide Länder ja das für die Waffenproduktion wichtige Wolfram lieferten. Es wird vermutet, dass ohne die Wolframlieferungen aus diesen Ländern Deutschland den Krieg nicht so lange hätte fortsetzen können.

In Spanien und Portugal herrschten zur damaligen Zeit Francesco Franco und Antonio Oliveira Salazar, zwei den Nazis gewogene faschistische Diktatoren, die aber stets ihre Neutralität erklärten und so den Krieg dazu benutzten, von beiden Seiten – von den Nazis und von den Alliierten – zu profitieren. Allgemein kann man wohl feststellen, dass im 2. Weltkrieg sogenannte neutrale Länder u.a. auf Grund ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten mit Deutschland den Verlauf des Krieges mit beeinflussten. Das geschah nicht nur durch die Lieferung von Wolfram aus Spanien und Portugal, sondern auch durch die Lieferung von Chrom und Kohle aus der Türkei und von Eisenerz aus Schweden. Auch die Schweiz hatte durch den Tausch von Nazigold in Schweizer Franken und durch den Transport von Nazigold nach Spanien einen nicht unerheblichen Einfluss.

Zwar behaupteten beide Länder -Spanien und Portugal – nach dem Weltkrieg, nichts von der Herkunft des Goldes gewusst zu haben, doch musste es beiden ebenso wie der Schweizer Nationalbank klar gewesen sein, dass das Gold keineswegs nur aus Goldreserven der deutschen Regierung bestehen konnte. Das Nazigold stammte wohl zum einen aus den Tresoren eroberter Länder und zum anderen von Opfern in den Konzentrationslagern und von enteigneten Bürgern und Verfolgten. Es war somit zumindest teilweise sogenanntes „Totengeld“. Mit dem Gold wurden dann entweder die Spanier und Portugiesen direkt bezahlt oder es wurde an die Schweizer Nationalbank im Gegenzug für Schweizer Franken oder portugiesische Escudos verkauft.

Als sich die Niederlage Hitlers abzeichnete, konnten sich einige der schlimmsten Naziverbrecher u.a. über den Bahnhof Canfranc nach Südamerika absetzen. Zudem  dienten wohl Goldreserven der Nazis in Portugal, Spanien und auch Argentinien dazu, dass sich einige Nazigrößen später ein gutes Leben in Südamerika leisten konnten. Nach Kriegsende ließen sich ca. 80.000 Deutsche und Österreicher in Lateinamerika nieder, unter ihnen mindestens 800 hochrangige Nazis und 200 gesuchte Kriegsverbrecher.

Paradoxerweise diente in den Jahren davor dieselbe Bahnhofstrecke vielen Flüchtlingen als Fluchtweg vor dem Nazis–Regime und als Zwischenstation auf ihrem Weg ins Exil über Lissabon nach Nord- oder Südamerika.

In Spanien verfolgte die Franco-Diktatur gegenüber den Flüchtlingen eine zwiespältige Linie. Einerseits ließ das Regime Juden über Spanien nach Nordafrika oder nach Lissabon und von dort nach Amerika entkommen. Denn Franco war auf die Öllieferungen von Briten und Amerikanern angewiesen. Andererseits stand der Diktator beim NS-Regime in der Schuld, weil Hitler ihn im spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) unterstützt hatte. Um die Nazis nicht zu verärgern, sorgte Franco dafür, dass der Flüchtlingsstrom nicht zu sehr anwuchs.

Zudem wehte 1942 die Hakenkreuzfahne über dem Bahnhof.  Die Wehrmacht hatte den Süden Frankreichs besetzt und war auch in das Pyrenäendorf eingerückt – und das, obwohl der Ort acht Kilometer weit auf spanischem Gebiet liegt und Spanien nicht am Krieg beteiligt war. Als Vorwand für den Einmarsch diente den NS-Truppen die Tatsache, dass der Bahnhof nicht nur spanischer, sondern auch französischer Souveränität unterstand. Durch die Dorfstraßen patrouillierten spanische Polizisten, spanische Soldaten und deutsches Militär. Canfranc ist die einzige spanische Gemeinde, die von den Nazis besetzt wurde!

Bei der schwierigen Flucht von Juden und anderer Verfolgter spielte Albert Le Lay, Chef des Zolls auf französischer Seite, eine wichtige Rolle. Lange Zeit blieb sein Handeln unbekannt, denn er hatte seiner Familie nach dem 2. Weltkrieg verboten, über seine Tätigkeiten zu berichten. Erst durch die Recherchen von José Antonio Blanco und Manuel Priede González, die gemeinsam einen Dokumentarfilm mit dem Titel „El Rey de Canfranc“  produziert haben, brach einer der Enkel das Schweigen. So muss Le Lay Tausende von Flüchtlingen die Flucht nach Spanien ermöglicht haben, zum Teil indem er sie in bestimmte präparierte Hohlräume in den Zügen versteckte und so der Kontrolle entzog. Einige der bekanntesten Flüchtlinge über den Bahnhof Canfranc sind Marc Chagall, Max Ernst (s. Exkurs unten) und Josephine Baker. Dankesschreiben aus der ganzen Welt u.a. aus Japan und von der amerikanischen Botschaft belegen die Hilfsaktivitäten Le Lays. Er selbst führte u.a. ein Register, in dem er die Namen derer aufzeichnete, die ihm vor dem Grenzübertritt ihr französisches Geld überlassen hatten. Albert Le Lay verwendete die angesammelte Summe, um eine Schule in Canfranc zu eröffnen. Außerdem war er ein Verbindungsmann zwischen den französischen Widerstandskämpfern und den Alliierten.

Der auch als König von Canfranc bezeichnete Le Lay wurde dann aber durch die Gestapo entlarvt. Auf Grund eines Tipps konnte er sich allerdings mit einer abenteuerlichen Flucht nach Algerien rechtzeitig der Verhaftung entziehen. Nach dem Krieg kehrte er in seine Gemeinde zurück, ohne aber je wieder über seine Aktivitäten zu sprechen. Im Jahr 1988 starb er hier.

Zudem wurde der Bahnhof auch von den Spionen der Alliierten genutzt, die über ein Spionagenetz Informationen an Frankreich und Spanien weitergaben, um so unter anderem auch den französischen Widerstand, la Résistance, zu unterstützen. Es ist anzunehmen, dass natürlich auch die Nazis hier ihre Spione hatten, um genau das zu verhindern.

Wer mehr über die schwierige Flucht jüdischer Intellektueller aus Frankreich über Spanien und Portugal nach Übersee wissen möchte, dem empfehle ich das Buch von Uwe Wittstock “Marseille 1940”, die große Flucht der Literatur; München 2024 . Unter diesen Flüchtlingen waren Alma Mahler-Werfel, Franz Werfel, Oskar Kokoschka, Heinrich Mann und seine Frau Nelly, Golo Mann, Thomas Manns Sohn, Lion Feuchtwanger und seine Frau Marta , Walter Benjamin, um nur einige Namen zu nennen, die allerdings auf anderen Fluchtwege die Pyrenäen überquerten.

Exkurs:

Max Ernst hat allerdings den Übergang von Canfranc genutzt. Wittstock erzählt dazu folgende Episode.

Juni 1941 versucht Max Ernst über den Grenzbahnhof von Canfranc nach Spanien zu kommen, obwohl seine Ausreisepapiere unvollständig sind. Man benötigte ein Ausreisegenehmigung von Frankreich und ein Transitvisa für Spanien und Portugal, wobei das Vichy-Regime sehr restriktiv mit den Ausreisevisas umging. Max Ernst packt also seine Bilder zusammen, einige Leinwände rollt er zusammen, andere in Keilrahmen schnürt er zu einem großen Paket. Dann leiht er sich fünfzig Dollar Reisegeld, denn er hat inzwischen kein Geld mehr und fährt über Toulouse und Pau in die Pyrenäen. Der Beamte, der seine Papiere überprüft, bemerkt, dass sein Ausreisevisum ungültig ist und beschlagnahmt seinen Pass. Ohne Pass kann Max Ernst jederzeit von der Polizei aufgegriffen werden und in ein Internierungslager gebracht werden. Trotzdem geht er auf die andere Seite des Bahnhofs zu den spanischen Kontrollen. Hier rollt er seine Leinwände aus und breitet seine Arbeiten in der Bahnhofshalle aus. Die Zöllner und auch die anderen Passagiere schauen sich bewundernd seine Bilder an. Durch die Unruhe im Bahnhof aufmerksam geworden, kommt auch der französische Grenzer in die Halle. Lange betrachtet er die Bilder. Dann bittet er Max Ernst in sein Büro. Hier zeigt er sich beeindruckt vom Talent und den Bilder von Max Ernst. Dann gibt er ihm den Pass zurück, zeigt ihm den richtigen Zug nach Spanien und verschwindet. Max Ernst packt seine Bilder wieder zusammen und steigt in den Zug nach Madrid und Lissabon ein. 1953 kehrt Max Ernst – jetzt allerdings als anerkannter und geehrter Künstler des Surrealismus – nach Frankreich zurück und lebte dort bis zu seinem Tod in Paris im Jahr 1976.

 

Heutige Situation des Bahnhofs

Inzwischen gibt es viele Initiativen und Aktionen, um den Bahnhof und seine Gebäude wieder zu aktivieren und den Ort touristisch aufzuwerten, bislang allerdings ohne großen Erfolg. 

Diese Aussage von 2018 trifft inzwischen nicht mehr zu. Nachdem der Bahnhof 2002 zum Kulturgut erklärt wurde und zum historischen Kulturerbe der Eisenbahn sind sowohl die Aktivitäten der Eisenbahn als auch der Gemeinde Canfranc nun von Erfolg gekrönt. Der Bahnhof wurde von der Barcelo Hotel Group in einem jahrelangen Prozess liebevoll und sehr aufwendig restauriert und erstrahlt in neuem Glanz. Im Januar 2023 eröffnete das fünf Sterne Royal Hideway Hotel Confranc. Bei der Innengestaltung ist eine wunderschöne Symbiose zwischen modernen Ansprüchen und historischen Elementen, die sich an der Blütezeit des Bahnhofs orientieren, gelungen. 

Die Gemeinde erhofft sich nun eine weitere Belebung des Tourismus. Im März 2023 wurde auch ein neues Pilgerbüro am Bahnhof eingerichtet. Zudem soll auch der Bahnverkehr aktiviert werden. Bislang kommen nur spanische Züge an der spanischen Grenze an. Man hofft aber, dass bis 2026 die Eisenbahnstrecke zwischen Spanien und Frankreich reaktiviert wird.

Im Somport-Eisenbahntunnel befindet sich auch das Laboratorio subterráneo de Canfranc (LSC, dt. Unterirdisches Labor von Canfranc). Es ist eine unterirdische Versuchsstation für Experimente der Teilchenphysik. Die drei Experimentierhallen haben durch das Bergmassiv eine Abschirmung vor kosmischer Strahlung, die 700, 1.400 bzw. 2.450 m Wasser entspricht.

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Vor der Restaurierung 230203110519-01-body-confrranc-station
Nach der Restaurierung RHCE_INT_26 Hotelhomepage